04.07.2022 | Wien| Caroline Schmüser

„Ich erlebe Familie zum zweiten Mal“

Fremde in den eigenen vier Wänden wohnen lassen? Was für viele eine unglaubliche Vorstellung ist, hat Dr. Michael Nebehay einfach getan. Vor drei Monaten nahm er eine geflüchtete Familie aus der Ukraine bei sich auf. Eine große Bereicherung, wie er findet.

Am 24. Februar 2022 startete Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Seitdem flüchteten Millionen von Menschen aus ihrer Heimat, viele davon nach Österreich: Bis Ende Juni registrierten sich hier 73.768 ukrainische Geflüchtete, vor allem Frauen und Kinder. (1) Die Solidarität der einheimischen Bevölkerung ist seither groß – Freiwillige helfen seit dem Frühjahr mit, Geflüchtete an Bahnhöfen zu empfangen, spenden Geld oder Alltagsgüter. Manche gehen sogar noch einen Schritt weiter, und nehmen Geflüchtete in ihren eigenen vier Wänden auf. Einer davon ist Dr. Michael Nebehay.

Dr. Michael Nebehay ist Internist, viele Jahre führte er eine Kassenpraxis in Oberösterreich. Seit seiner Pension nimmt die Freiwilligenarbeit einen großen Teil seines Lebens ein. Er war als Arzt auf einem Spitalsschiff unterwegs, das hilfsbedürftige Menschen an der westafrikanischen Küste medizinisch betreute. Später engagierte er sich bei der Organisation „AmberMed“, die Menschen ohne Krankenversicherung niederschwelligen Zugang zu medizinischer Versorgung bietet. 2020 fuhr er nach Lesbos und arbeitete ehrenamtlich im Flüchtlingslager Moria. Als Nebehay im Frühjahr 2022 die Mail einer Bekannten erhielt, in der sie sich nach Übernachtungsmöglichkeiten für eine Verwandte und deren Nachwuchs aus der Ukraine erkundigte, war ihm sofort klar: Wohnraum bieten, das kann er selbst.

Drei Monate ist es her, dass die ukrainische Mutter mit ihren drei Kindern bei Nebehay einzog. Das Zusammenleben empfindet er als große Bereicherung: „Wir ergänzen uns gut“, erzählt er am Telefon. Morgens macht Nebehay Frühstück, am Mittag kocht die Mutter. Nebehay geht einkaufen. Die Kinder sind tagsüber in der Schule, sonst beschäftigen sie sich gerne mit Nebehays Hund oder fahren mit ihren gespendeten Fahrrädern an der Alten Donau. Fast jeden Nachmittag besuchen sie außerdem ein Gymnastiktraining im Prater. Gehört haben sie vom Training von anderen Ukrainer:innen – die Geflüchteten seien gut vernetzt, so Nebehays Beobachtung. Die Mutter wisse somit immer, wo es Spielplätze und Freizeitangebote für die Kinder oder auch Lebensmittelspenden gebe. Auf Spenden sei die Familie – trotz günstigem Wohnraum – nämlich weiterhin angewiesen.

„Ich kann nur ermutigen, sich auf ein Zusammenleben mit Geflüchteten einzulassen“

Die Familienmitglieder mit dem Hund des Hauses. Manchmal kann der Vater für einige Tage aus der Ukraine zu Besuch kommen. © Dr. Michael Nebehay

260 Euro Verpflegungsgeld stehen erwachsenen Ukrainer:innen monatlich zu, für jedes minderjährige Kind bekommen Eltern weitere 145 Euro. (2) Bisher habe die Mutter aber erst einmal Geld vom Staat erhalten, dabei ist sie bereits seit vier Monaten im Land. „Wie eine Familie davon leben soll, ist mir ein Rätsel“, sagt Nebehay. Und auch bei der Wohnsitzanmeldung und der Suche nach passenden Schulplätzen sei die Familie immer wieder über bürokratische Hürden gestolpert. Nebehay ist „voller Bewunderung für die Mutter“, die diese Hürden mit Mut und Ausdauer meistert.

Nebehay hat eine große Wohnung mit genügend Platz. Das erleichtere das Zusammenleben sehr. Die Mutter und die älteste Tochter sprechen außerdem gut Englisch. Wenn es mal hakt, komme Google Übersetzer zum Einsatz. Außerdem sei beiden Parteien Rücksichtnahme und Diskretion wichtig. „Aufgrund meiner positiven Erfahrungen kann ich jeden, der zögert, nur ermutigen, sich auf ein Zusammenleben mit Geflüchteten einzulassen“, meint Nebehay. Die Dankbarkeit der Familie und die entstandenen Freundschaften empfindet der pensionierte Arzt als Belohnung. Und mehr noch: Nachdem seine Kinder aus dem Haus sind, erlebe er „Familie zum zweiten Mal“.

Die Familie hofft, bald in die Ukraine zurückgehen zu können. Wann genau, bleibt ungewiss. Ständig gibt es neue Meldungen von Bombardements. Erst vor kurzem sei in ihrer Heimatregion eine Brücke zerstört worden. Mit jeder schlechten Nachricht werde die Hoffnung kleiner. Die Sorgen und den Schmerz der Familie erlebt Nebehay hautnah mit. Auch deshalb ist es für ihn kein Problem, die Familie weiter zu beherbergen – bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie wieder sicher heimkehren kann.

Quellen: 

(1) Ukraine Refugee Situation, UNHCR, Situation Ukraine Refugee Situation (unhcr.org), zuletzt abgerufen am 04.07.2022

(2) So können Sie unterstützen, Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungleistungen, Ukraine-Hilfe: So können Sie unterstützen – BBU, zuletzt abgerufen am 04.07.2022

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